Autor

Urlaubsanspruch des Scheinselbständigen

Für Scheinselbstständige könnten bald Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche bestehen, wenn den Schlussanträgen des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof Evgeni Tanchev vom 08.06.2017 in der Rechtssache C-214/16 gefolgt wird.

Scheinselbstständigkeit liegt bekanntlich vor, wenn ein selbstständiger Unternehmer im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig ist. Zwar müssen hierneben auch noch Anzeichen für eine organisatorische Eingliederung in das Unternehmen und ein gewisse Weisungsgebundenheit dazu kommen. Diese Rahmenbedingungen sind indes in den meisten Fällen schon allein aufgrund der vertraglichen Bindung und den damit gesetzten, vom Auftraggeber weitestgehend vorgegebenen Bedingungen des Auftrages gegeben. Bisherige Folge war, dass das Unternehmen auf das an den scheinselbstständigen Unternehmer gezahlte Entgelt noch die vollen Sozialabgaben abzuführen hatte. Und zwar rückwirkend, wenn dieser Umstand, was die Regel sein dürfte, im Rahmen einer Betriebsprüfung der Sozialversicherung oder einem vom scheinselbstständigen Auftragnehmer angestoßenen Statusprüfungsverfahrens aufgedeckt worden ist.

Derzeit beschäftigt sich der Europäische Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal, dem Berufungsgericht für England und Wales, in der Rechtssache C-214/16 mit der Frage, ob einem Scheinselbständigen auch ein arbeitsvertraglicher Urlaubsabgeltungsanspruch zustehen könnte. In dem zugrundeliegenden Sachverhalt ist ein Verkäufer für eine Firma tätig, wobei sein Arbeitsvertrag als „Selbstständigen-Vertrag ausschließlich gegen Provision“ klassifiziert wurde. Auch in England gibt es einen gesetzlichen Urlaubsanspruch für Arbeitnehmer. Diesen Anspruch auf bezahlten Urlaub hat der Verkäufer indes nie geltend gemacht, weil er sich als Selbständigen sah, bis ihm gekündigt wurde. Für den EuGH stellt sich nun die Frage, ob der scheinselbstständige Verkäufer zum einen schon im laufenden Arbeitsverhältnis einen Urlaubsanspruch geltend zu machen gehabt hätte, um seinen Anspruch darauf zu sichern, und zum anderen, ob ihm überhaupt als Scheinselbstständigem der gesetzliche Urlaubsanspruch zustünde. Der Generalanwalt ist der Meinung, dass der Arbeitgeber des Verkäufers sicherzustellen gehabt hätte, ob seinem Verkäufer Urlaubsansprüche zustehen, und dass einem scheinselbstständigen tatsächlich ein solcher Anspruch zusteht. In seinen Schlussanträgen empfiehlt der Generalanwalt daher unter anderem, dem Court of Appeal zu antworten: „Wenn der Arbeitnehmer den ihm zustehenden Jahresurlaub in dem Bezugszeitraum, in dem ein Anspruch auszuüben ist, ganz oder teilweise nicht nimmt, den Urlaub aber genommen hätte, wenn nicht der Arbeitgeber die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, kann der Arbeitnehmer geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert ist, so dass der Anspruch so lange übertragen wird, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hatte.“

Dieser Vorschlag hat für die nationale arbeitsgerichtliche Rechtsprechung erhebliches Potenzial, wie einst die Schulz-Hoff-Entscheidung für das Verfallen von Urlaubsansprüchen bei langer Krankheit. Wenn der EuGH dem Schlussantrag folgt, und das wird allgemein erwartet, bedeutet dies, dass ein als selbstständiger Unternehmer beschäftigter Dienstleister einen Abgeltungsanspruch auf den ihm für die Dauer seiner Beschäftigung zustehenden Urlaubsanspruch geltend machen könnte, wenn mit ihm vertraglich kein bezahlter Urlaub vereinbart worden ist. Diesen Anspruch könnte er nach Beendigung des Vertrages geltend machen und behaupten, er sei scheinselbstständig gewesen. Welcher Unternehmer wäre nicht sofort vergleichsbereit um nicht gleichzeitig Fakten für die Sozialversicherung zu schaffen?

Martin Becker
Rechtsanwalt und Mediator, Winfried Becker & Partner, Lemgo